Rio de Janeiro – Paulo Amendoim hat von hier oben einen der schönsten Blicke auf Olympia. Vor dem früheren 1500-Meter-Läufer liegt die geschwungene Hügelkette Rio de Janeiros und die riesige Lagune Rodrigo de Freitas, wo die Ruderer um Gold kämpfen.
Was für ein Blick. Doch ohne Fernglas ist der Zieleinlauf nicht zu sehen. Olympia so nah. Und doch so fern, in Rios größter Favela Rocinha.
Zehn Geschwister hat er – die meisten kennt er nicht, da die Mutter sie mangels Geld zur Adoption freigeben musste. Er führt heute hier Touristen rum, und bei allen schlechten Schlagzeilen über diese von ihren Menschen, der Musik und Kreativität zehrenden Olympia-Stadt – Rocinha mit seinen über 200 000 Einwohnern ist auch ein Beispiel, was geschafft wurde. Weitgehend befriedet, Drogengangs zurückgedrängt – als Amendoim klein war, gab es kein fließendes Wasser, keinen Strom.
Der 59-Jährige, immer für ein Späßchen zu haben, Inkarnation der guten Laune, ist Präsident des Tourismus-Forums der Rocinha, ein wachsendes Geschäft. Die über 20 Prozent steilen Rampen in der Rua Maria do Carmo hochzulaufen, ist für die Touristen sportlich.
Amendoims Olympia-Fazit nach einer Woche kleidet er in drei Worte: «Wir sind stolz.» Nicht so sehr auf die Organisation und die Milliardenkosten. Nein, auf Rafaela Silva. Jene Judoka, schwarz, erste brasilianische Olympiasiegerin bei den Heimspielen. Sie stammt aus der Nachbarfavela Cidade de Deus («Stadt Gottes») – beschrieben im Roman von Paulo Lins, verfilmt von Fernando Meirelles in «City of God». «Sie ist unsere Heldin, ein Vorbild für die ganze Jugend hier.»
Mit acht Jahren fing Silva mit Judo im Instituto Reação an. Ein Sozialprojekt in den Favelas, das heute an fünf Stützpunkten 1200 Kinder und Jugendliche fördert, damit sie nicht im Kreislauf von Drogen und Gewalt landen. Einer ist hier in der Rocinha. Gegründet wurde es vom Judo-Bronzemedaillengewinner in Athen, Flávio Canto.
Und wie ist sonst so das Olympia-Interesse in der Rocinha, wo keiner Geld hat, um sich Eintrittskarten zu kaufen? 100 Meter weiter den Berg hoch liegt das «Restaurante Visual». Angela Maria Carneiro Barbosa und Antonia Lima stehen am Gasherd und zelebrieren leckere brasilianische Küche: Rindfleisch, gebratenes Hühnerfilet – und natürlich Feijoada, schwarze Bohnen mit geräuchertem Fleisch. Im TV läuft das Basketball-Match Brasilien-Kroatien, es ist spannend, Brasilien verliert ganz knapp. Aber nur Alex Sandro (45) schaut auf den Bildschirm, während der Reis in schwarzer Feijoada-Soße ertrinkt.
Eigentlich interessiert ihn Fußball mehr, er ist Botafogo-Fan. Wie oft er schon im weltberühmten Maracanã war? «Noch nie.» Für Olympia im Stadion hat der Bauarbeiter auch kein Geld. Sagen wir mal so, er findet Olympia interessant, aber es reißt ihn nicht vom Hocker.
«Ich habe noch nie Gymnastik gesehen.» Die ganzen Verrenkungen und Bänder-Übungen finden viele Brasilianer komisch, auch Fechten – die Regeln kennt eigentlich niemand. Ob es in diesen Randsportarten einen Schub gibt? Eher unwahrscheinlich, aber sicher beim Judo, dank Rafela Silva. Wenn Judo läuft, sind die Fernseher in der Rocinha umringt, an diesem Tag wird gejubelt, eine der ihren, Mayra Aguiar holt Bronze in der Klasse bis 78 Kilo. Draußen vor dem Restaurant Visual werden mit Beton notdürftig Schlaglöcher ausgebessert – immer wieder wird betont: Hier fehlt es an allem, aber die Stadt und die Regierung pumpen Milliardensummen in das Megaprojekt Olympia.
In der Küche wettert Frau Carneiro Barbosa: «Es sind Spiele des Ausschlusses, wir haben nichts davon.» Seit zwei Jahren warte die Schwiegermutter des Sohnes auf eine Knie-OP. Rio ist fast pleite, die Krankenhäuer sind am Limit, immer wieder streikt das Personal. «Ich schaue mir gar nichts an», meint die Küchenchefin mit wegwerfender Handbewegung. Unterm Strich: keine Olympia-Euphorie, bei vielen eher Gleichgültigkeit. Und ein großer stolzer Silva-Moment. Aber ganz unten, am Eingang der Rocinha, tief unter der Erde, da ist etwas, dass hier für Bewohner vielleicht der größte Olympia-Gewinn sein wird.
Die Station São Conrado der neuen Metro, die raus nach Barra führt, wo sich der Olympia-Park befindet. Damit werden die Menschen bei der Fahrt in die Stadt viel Zeit gewinnen. Doch sie dürfen sie erst ab September nutzen – weil sie erst gerade fertig wurde, dürfen aus Sicherheitsgründen nur Olympia-Gäste mitfahren. Während oben in der Rocinha lautes, lebendiges Treiben herrscht, ist es in der Station fast surreal ruhig und einsam. Auch ein besonderer Olympia-Moment.
Fotocredits: Peter Bauza
(dpa)