Melbourne – Sebastian Vettel zog die rote Kappe tief ins Gesicht und stapfte hinter seinem neuen Boss in die Garage. Die Mappe unter dem Arm von Ferrari-Teamchef Mattia Binotto deutete an, dass es einiges zu bereden gab nach dem ersten Trainingstag beim Formel-1-Saisonauftakt in Melbourne.
Mit erstaunlichem Rückstand auf Titelverteidiger Lewis Hamilton hatte Vettel die Übungseinheiten beendet. Im Fahrerlager kreiste prompt die Frage: Hat Ferrari nur geblufft? «Ich mache mich nicht verrückt», beteuerte Vettel nach den ersten Analysen.
Mit großen Erwartungen waren der Hesse und sein Team nach Australien gereist. Im fünften gemeinsamen Jahr soll endlich der Titel her. Dafür haben sie in Maranello personell auf allen Ebenen umgebaut, die Anstrengungen und den Druck noch einmal erhöht. Vettels Bestzeit bei den Tests in Barcelona bestärkte die Hoffnung. Auch deshalb wirkten die neun Zehntelsekunden, die dem 31-Jährigen nun in Melbourne auf Hamilton fehlten, wie eine kalte Dusche. Auch Ferrari-Neuzugang Charles Leclerc (21) war als Neunter weit zurück.
«Wir verlieren in jeder Kurve ein bisschen, also müssen wir uns in 16 Kurven verbessern», rechnete Vettel vor. Für seine Mechaniker und Ingenieure hieß das: Nachtschicht. Beobachter indes wollten beim Blick auf die Zeitentabelle erkannt haben, dass Ferrari mit vollen Tanks sein wahres Leistungsvermögen verschleierte.
Von der Favoritenrolle, in der sich die Scuderia zuletzt wiederfand, wollte Teamchef Binotto ohnehin nichts wissen. «Wintertests sind nicht dasselbe wie eine Qualifikation oder eine Rennsituation. Erst hier in Melbourne beginnen wir, das Auto richtig zu verstehen», sagte der 49-Jährige. Seine Mannschaft schaue vorerst nur auf sich. «Wir wollen uns Schritt für Schritt verbessern», sagte Binotto.
Schon wieder in Spitzenform scheint indes Champion Hamilton. «Das Auto hat mir ein gutes Gefühl vermittelt – genau deshalb macht es mir so viel Spaß», ließ der Brite übermitteln. Noch vor wenigen Tagen hatte der 34-Jährige von bis zu einer halben Sekunde Rückstand auf Ferrari und dem wohl schwersten Titelkampf bislang gesprochen. Nun flogen die Silberpfeile wieder allen davon. Hamiltons finnischer Teamkollege Valtteri Bottas belegte in der Endabrechnung Rang zwei.
«Sie waren in einer eigenen Liga», versicherte Vettel und machte sich über den «ganzen Quatsch» lustig, der zuletzt zum erwarteten Kräfteverhältnis diskutiert worden sei. «Keiner hat wirklich verstanden, was Mercedes beim Testen gemacht hat, vielleicht sie selbst auch nicht», ätzte Vettel. Das Pokerspiel im Titelkampf hat offenbar diesmal besonders früh begonnen.
Ob er denn selbst noch ein Ass für das Wochenende im Ärmel habe, wurde der viermalige Weltmeister kurz vor dem Feierabend noch gefragt. «Ich hab ein kurzes T-Shirt an, da würde man ein Ass ja sofort sehen», entgegnete Vettel schlagfertig.
Für schlechte Laune gab es an diesem windigen Nachmittag im Albert Park, der nur einen kurzen Fußweg vom Strand in St. Kilda entfernt ist, definitiv noch keinen Grund. Auf das Auftaktrennen in Australien am Sonntag (6.10 Uhr MEZ/RTL und Sky) folgen noch 20 weitere Grand Prix. Vorbei ist die Saison erst am 1. Dezember in Abu Dhabi.
In den beiden vergangenen Jahren hatte Vettel das Rennen in Melbourne gewonnen. Weltmeister wurde am Ende aber jeweils Hamilton. Diesmal will Vettel nicht wieder einem anderen zum Titel gratulieren müssen. Im fünften Jahr hatte damals auch Michael Schumacher seinen einmaligen Triumphzug mit der Scuderia gestartet. Dieser Blick in die rote Geschichte gibt den Tifosi Zuversicht.
Mercedes-Teamchef Toto Wolff hat einen weiteren Faktor ausgemacht. «Ferrari hat einen Vorteil uns gegenüber: Nach elf Jahren ohne Titel haben sie einen riesigen Hunger. Wenn sie den richtig kanalisieren, kann sie das zum Titel tragen», sagte der Österreicher der «Süddeutschen Zeitung».
Doch auch den silbernen Seriensiegern mangelt es nicht am Antrieb. Mit einem weiteren Team-Erfolg könnte Mercedes den Ferrari-Rekord von sechs Konstrukteursmeisterschaften nacheinander einstellen. Hamilton ist mit inzwischen fünf Titeln auf gutem Weg, Schumachers Bestmarke von sieben Triumphen zu erreichen.
Dafür lässt Wolff seinem Superstar gern alle Freiheiten abseits der Strecke. Surfen? Fallschirmspringen? Mode kreieren? «Er weiß schon, was für ihn am besten passt», sagte Wolff. «Einige gehen ins Meditationsseminar nach Indien, andere Fallschirmspringen. Und einige suchen weibliche Gesellschaft. Wir sollten jeden so akzeptieren, wie er ist», erklärte der 47-Jährige. Wirkt Hamiltons Rezept auch dieses Mal, muss Sebastian Vettel noch einige Asse aus dem Ärmel ziehen.
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(dpa)