Hannover – Regungslos saß Martin Kind auf dem Vorstandspodium und sah dabei zu, wie seine Gegner jubelten und sangen wie in einer Fankurve. Kind-Gegner gegen Kind-Befürworter 5:0, heißt das Ergebnis dieser mit Spannung erwarteten Mitgliederversammlung von Hannover 96.
Alle fünf Kandidaten der Opposition wurden mit großer Mehrheit in den neuen Aufsichtsrat des eingetragenen Vereins gewählt. Dort können sie nun in den nächsten Wochen einen Kind-Nachfolger als Präsidenten einsetzen, der Sebastian Kramer heißen wird und früher zehn Jahre lang Fanbeauftragter des Fußball-Bundesligisten war.
Das Besondere an diesem Machtwechsel ist aber nicht nur seine Emotionalität und Wucht. Vorerst schafft er in einem tief gespaltenen Verein mehr Unklarheiten und Brisanz, als dass er sie beseitigt. Ab sofort müssen ein von Kind-Kritikern geführter Mutterverein und eine von Kind dominierte Profifußball-Gesellschaft miteinander klarkommen. Denn der 74-Jährige ist nach 22 Jahren nur freiwillig aus dem Amt des Vereinspräsidenten geschieden. Kind ist nach wie vor Geschäftsführer der ausgegliederten Hannover 96 GmbH und Co. KGaA sowie Mehrheitseigner jener Gesellschaft, der diese Profiabteilung gehört.
«Die Opposition hat überzeugend gewonnen. Herzlichen Glückwunsch dazu», sagte er der Deutschen Presse-Agentur am Tag nach der Versammlung. Alles andere will Kind «gelassen» abwarten. «Es gibt ein Profifußball-Unternehmen und einen eingetragenen Verein. Das sind zwei unterschiedliche Vereins- und Unternehmensphilosophien», sagte er. «Wir werden sehen, ob es eine Basis für eine Zusammenarbeit gibt. Sonst geht jeder seinen eigenen Weg.»
Auch der siegreichen Opposition war am Samstagabend schnell klar, dass sie jetzt nicht einfach alle Entwicklungen wieder zurückdrehen kann, die sie Kind in den vergangenen Jahren immer vorgeworfen hat. «Wir freuen uns für den heutigen Abend. Aber wir haben heute keinen Pokal gewonnen. Wir haben eine schwierige Aufgabe übernommen», sagte der neue Aufsichtsrat Carsten Linke, der als früherer 96-Kapitän und Fanliebling so etwas wie eine Galionsfigur der Kind-Kritiker ist.
Der größte Knackpunkt ist der Umgang mit der 50+1-Regel, die im deutschen Profifußball den Einfluss von Investoren begrenzen soll. 2017 beantragte Kind die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung davon, weil er die 96-Profis mehr als 20 Jahre «erheblich gefördert» habe. Dieser Antrag wird seit Monaten von dem Ständigen Schiedsgericht der Lizenzligen verhandelt. Sollte er durchkommen, hätte der Verein 96 endgültig keinen Zugriff auf die Fußball-Profis von 96 mehr.
Die künftige Vereinsführung will nun überprüfen, ob sie den Antrag auf eine Ausnahmegenehmigung von der 50+1-Regel zurückziehen kann. Ihr Ziel ist, die Mitglieder bei einer weiteren außerordentlichen Versammlung über die Übernahmepläne von Martin Kind abstimmen zu lassen. Das würde mit großer Wahrscheinlichkeit das Aus für den Antrag bedeuten. «Wir sind an diesem Prozess nicht beteiligt gewesen und werden jetzt versuchen, Informationen von der DFL und dem Schiedsgericht zu bekommen», sagte der designierte Präsident Sebastian Kramer. Der Rückzug des Antrags sei aber eine Möglichkeit.
Kind selbst hielt sich dazu am Wochenende bedeckt. «Das sind Rechtsfragen. Es ist zu früh, das zu kommentieren», sagte er.
Sein Umgang mit dem Thema 50+1 steht aber exemplarisch dafür, wie aus einem so erfolgreichen Präsidenten ein so heftig kritisierter Club-Chef werden konnte. Die Kind-Gegner argumentieren: Er habe den Verein von oben herab geführt und elementare Dinge wie den 50+1-Antrag oder den Verkauf von Vereinsanteilen komplett an den Mitgliedern vorbei vorangetrieben. Die Kind-Befürworter halten dagegen: Er habe den Verein vor der Insolvenz gerettet, von der Dritten bis in die Erste Liga geführt und dort sowohl ein WM-Stadion als auch ein neues Nachwuchsleistungszentrum geschaffen.
Das Stimmungsbild bei der Mitgliederversammlung war jedoch eindeutig. Die Opposition war in der Mehrheit. Ihr Problem ist jetzt, dass sie von einer «Kind-muss-weg»-Stimmung getragen wurde, sich aber eine «Kind-muss-weg»-Stimmung auf Dauer nicht leisten kann. So erklärte der Unternehmer bei der Versammlung unter anderem, dass die 96-Profis in dieser Saison auf einen Verlust von 18 Millionen Euro zusteuern, den ausschließlich die Gesellschafter um Kind ausgleichen würden.
Carsten Linke bemühte sich deshalb am Samstag auch sehr schnell um besonders versöhnliche Töne. «Jeder weiß, wie viel Martin Kind für diesen Verein geleistet hat», sagte er. «Wir wollen alles möglich machen, um wieder Einigkeit in den Verein zu bekommen.»
Fotocredits: Oliver Vosshage
(dpa)