Berlin – Die Weltmeister um Müller, Özil, Hummels und Kroos müssen es auch in Russland noch einmal richten. Und: Die zweite Reihe im deutschen Fußball-Nationalteam hat noch weitaus mehr Mängel als erwartet.
Mit diesen Erkenntnissen schickte Bundestrainer Joachim Löw seine heißesten WM-Kandidaten nach dem Augen öffnenden 0:1 gegen wiedererstarkte Brasilianer in den Saisonendspurt mit ihren Clubs.
Zuvor hatte Real-Madrid-Star Toni Kroos deutlich das Missverhältnis von Wort und Tat bei den Nachrückern um Leroy Sané und Ilkay Gündogan öffentlich angeprangert. «Ich habe von allen mehr erwartet. Aber wenn man die Möglichkeit hat in so einem Spiel, dann kann man hier und da schon eine andere Körpersprache erwarten», rügte die Führungskraft.
Man habe deutlich gesehen, «dass wir doch nicht so gut sind, wie uns immer eingeredet wird oder wie vielleicht auch einige von uns denken», erklärte Kroos zweieinhalb Monate vor dem ersten WM-Gruppenspiel am 17. Juni in Moskau gegen Mexiko.
Chef Löw sieht freilich keinen Anlass, seine generelle Linie für das Unternehmen WM-Titelverteidigung zu modifizieren. «Mir bereitet kaum etwas große Sorgen. Weil ich weiß, dass die Mannschaft zu etwas ganz anderem fähig ist. Jede Mannschaft hat mal so einen Tag, an dem es nicht läuft. Ich weiß, was wir können und welche Mentalität wir haben», betonte der Bundestrainer in Berlin.
Fast vier Jahre nach dem 1:7 im Jahrhundertspiel im WM-Halbfinale hat ein runderneuertes brasilianisches Team nicht nur demonstriert, dass dem Rekordweltmeister in Russland die erfolgreiche Jagd auf den sechsten Titel zuzutrauen ist. Die Südamerikaner erdeten auch den amtierenden Champion Deutschland, der erstmals seit dem EM-Sommer 2016 wieder ein Spiel verlor; die Rekordjagd endete nach 22 Spielen.
«Es war ein guter Weckruf zur rechten Zeit. Man sieht, dass wir noch einiges verbessern müssen, wenn wir den Titel verteidigen wollen», bemerkte Mittelfeldspieler Julian Draxler. Der Profi von Paris Saint-Germain erkannte aber keinen Anlass zur Besorgnis: «Ich sehe nicht schwarz Richtung WM.» Und Löw beruhigte alle deutschen Fans: «Sie können sich sicher sein, wir werden uns steigern.»
Der DFB-Chefcoach hatte die Niederlage mit Experimentierfreudigkeit auch ein Stück weit provoziert. «Bitter, dass so viele Leute ins Stadion kommen und eine Niederlage gesehen haben. Aber wenn es wirklich nur ums Gewinnen gegangen wäre, dann hätte der Trainer anders aufgestellt», erklärte Mario Gomez. Der Stürmer konnte in seinem 73. Länderspiel keine unschlagbaren Argumente dafür liefern, dass ihn der Bundestrainer am 15. Mai im Dortmunder Fußballmuseum als einen Spieler im vorläufigen WM-Kader vorstellt.
Löw räumte ein, dass es bei gleich sieben Umstellungen im Vergleich zum attraktiven 1:1 gegen Spanien nicht leicht war, dass die Automatismen greifen: «Unser Spiel ist nicht so rund gelaufen wie normalerweise.» Was den Weltmeistercoach allerdings ärgerte: «Wir haben den Gegner in der ersten Halbzeit mit einer Reihe von Ballverlusten stark gemacht. Unsere Körpersprache, die Dominanz und Sicherheit waren nicht gut.»
Ab dem 23. Mai im Trainingslager in Eppan in Südtirol hat Löw wieder die Zeit, um an Taktik, Spritzigkeit und Körpersprache zu arbeiten. Vor 72 717 Zuschauern im ausverkauften Olympiastadion und zwölf Millionen Fußball-Interessierten an den TV-Geräten wurde gegen Brasilien deutlich: In der Nationalelf gibt es größere Niveauunterschiede zwischen den Topspielern und nachdrängenden Confed-Cup-Siegern.
«Wenn wir mit unserer ersten Elf spielen, können wir Brasilien absolut Paroli bieten, wenn nicht sogar mehr», sagte der erfahrene Gomez. «Heute war in einem gewissen Bereich immer schon Schluss, dann waren die Bälle schon verloren, entweder durch technische Fehler oder weil wir uns in den Zweikämpfen nicht durchgesetzt haben – und das relativ konstant», bemängelte Kroos. In den letzten beiden WM-Tests am 2. Juni in Klagenfurt gegen Österreich und sechs Tage später in Leverkusen gegen Saudi-Arabien muss das wieder besser funktionieren. Denn die WM werde «Unmenschliches abverlangen», mahnte Löw.
Seine Mannschaft hat in den jüngsten vier Spielen gegen die WM-Mitfavoriten England (0:0), Frankreich (2:2), Spanien (1:1) und Brasilien (0:1) nur teilweise ihr Potenzial gezeigt. Das habe aber keine große Aussagekraft, bemerkte Gündogan: «Wir haben immer wieder durchrotiert, und es waren nur Testspiele. Das hat man bei jedem Einzelnen gespürt. Wenn es dann um was geht, wird es ganz anders.»
Kroos wollte sich gar nicht lange damit aufhalten, was die Niederlage gegen Brasilien mit Blickrichtung WM bedeutet. «Es ist eigentlich völlig wurscht, wo wir stehen», sagte der gebürtige Greifswalder: «Es ist definitiv nicht so, dass wir dieser absolute Favorit sind, der nach Russland fährt. Aber das war vorher Quatsch, das ist jetzt Quatsch. Jetzt sehen es vielleicht ein paar mehr so.»
Fotocredits: Jan Woitas,Andreas Gebert,Soeren Stache,Christian Charisius,Jan Woitas,Jan Woitas
(dpa)