Rio de Janeiro – Frustriert, ratlos und mit leerem Blick suchte Tony Martin das Weite. Geradezu fluchtartig verließ der dreimalige Rad-Weltmeister nach dem Einzelzeitfahren den Ort seines wohl größten Debakels.
«Im Moment bin ich wahnsinnig enttäuscht, aber das war es noch nicht», sagte Martin mit einem letzten Hauch an Kampfgeist noch knapp, dann verschwand er hinter Palmen unmittelbar am Strand von Rio de Janeiro.
Wenige Minuten zuvor war er geradezu vorgeführt worden von seinem langjährigen Widersacher Fabian Cancellara. Um schier unglaubliche 3:18 Minuten hatte ihn der Schweizer Altmeister, der zum Saisonende in den Ruhestand geht, im olympischen Einzelzeitfahren über 54,5 Kilometern distanziert. Martin belegte Platz zwölf, sein Kindheitstraum Olympiasieg hatte sich an der Atlantikküste auf ernüchternde Weise zerschlagen.
«Ich bin nicht in meinen Rhythmus gekommen», sagte Martin und suchte nach Erklärungen, die er in seiner ersten Enttäuschung kaum finden konnte. «Ich werde das Rennen sehr genau analysieren müssen, um die Ursachen für das schwache Abschneiden zu finden und dann dort ansetzen», ergänzte Martin, dessen Karriere in diesem Jahr einen schweren Knick erfahren hat. Ausgerechnet in seiner Lieblingsdisziplin ist Martin nicht mehr konkurrenzfähig.
Aufgeben will er nicht, sogar einen erneuten Angriff in Tokio zieht er in Betracht. Dann wäre Martin 35, exakt so alt wie Cancellara bei seinem zweiten Olympiasieg nach Peking 2008. Der dreimalige Paris-Roubaix-Sieger war bereits abgeschrieben worden, doch in Rio zeigte er noch einmal seine ganze Klasse und verwies die haushohen Favoriten Tom Dumoulin und Tour-de-France-Champion Chris Froome auf die Plätze zwei und drei. «Ich bin superstolz. Eine Goldmedaille im letzten Jahr zu gewinnen: Was will ich mehr als das?», sagte Cancellara.
Dabei hatten Martin und viele Fahrer die Strecke als Bergfahrer-Kurs eingeschätzt. «Ich muss mich revidieren. Das war schon ein Kurs für jeden, wie man an Cancellara sieht», sagte Martin. Der Triumph bei Olympia war ein langgehegtes Karriereziel von ihm, vor vier Jahren beim zweiten Platz in London hatte ihm Bradley Wiggins einen Strich durch die Rechnung gemacht. In Rio erreichte Martin gerade noch vor Simon Geschke (Freiburg), dem zweiten deutschen Fahrer, das Ziel. Irgendwie sind ihm die Zeitfahr-Qualitäten abhanden gekommen.
Damit gingen für den Bund Deutscher Radfahrer (BDR) die Straßen-Wettbewerbe ohne Medaille zu Ende. Im Zeitfahren war schon nach der ersten Zwischenzeit klar, dass Martin um die Medaillen nicht mitfahren wird. Der 31-Jährige lag bereits nach zehn Kilometern gut 16 Sekunden hinter Cancellara, bei Kilometer 19,7 betrug sein Rückstand bereits 50 Sekunden auf Platz eins und wuchs weiter an.
Der mehrmalige Tour-de-France-Etappengewinner war bereits mit Kniebeschwerden nach Rio angereist, aber schon bei der Frankreich-Rundfahrt hatte er an seine Bestleistungen nicht anknüpfen können. Hinzu kam der wellige Kurs, der Martin überhaupt nicht lag.
Fotocredits: Soeren Stache,Sebastian Kahnert
(dpa)