Foix – Über viele Jahre war Bernard Hinault in die Siegerehrungen der Tour de France eingebunden. Der fünfmalige Triumphator schüttelte auf dem Podium viele Hände, gratulierte Generationen von Siegern. Nur sein legitimer französischer Nachfolger war nicht darunter.
Inzwischen hat sich Hinault zurückgezogen. Vielleicht hätte die Radsport-Ikone noch ein wenig warten sollen. Denn seit dem Triumph von Romain Bardet auf der ersten Pyrenäen-Etappe darf die «Grande Nation» tatsächlich auf den ersten Gesamtsieg seit 1985 hoffen.
«Allez Bardet», titelte das Tour-Organ «L’Equipe» am Nationalfeiertag und schrieb: «Das Gelbe Trikot ist nicht mehr nur ein Traum.» Acht Seiten war dem Blatt das Spektakel in Peyragudes am Donnerstag wert, als Bardet in 1580 Metern Höhe zum Sieg stürmte und Titelverteidiger Chris Froome eine empfindliche Niederlage zufügte. Plötzlich ist alles offen. Der Italiener Fabio Aru übernahm das Gelbe Trikot, doch Froome und Bardet sind nach der 12. Etappe mit winzigen sechs und 25 Sekunden Rückstand in Schlagdistanz.
Frankreich ist verzückt von Bardet, dem jungen Mann aus Brioude in der Auvergne. Mit seiner freundlichen und netten Art schafft der 26-Jährige Eindruck. Star-Allüren gibt es bei dem Leichtgewicht nicht. Der blasse Bardet kommt aus gutem Hause, sein Vater war Lehrer, seine Mutter Krankenschwester. Neben seiner Karriere hat Bardet Betriebswirtschaft studiert, er liest Bücher und interessiert sich für das Weltgeschehen.
Aber in erster Linie ist er ein erstklassiger Radprofi. Schon mit dem zweiten Platz im vergangenen Jahr – damals aber noch deutlich hinter Froome – hatte er die Erwartungen geweckt. Längst lastet auf Bardet der Druck und die Sehnsucht eines ganzen Landes. 32 Jahre sind eine lange Zeit, für die begeisterte Radsport-Nation viel zu lang. Als Hinault 1985 gewann, war Bardet nicht einmal geboren. «Wenn mich jemand auf der Straße erkennt, spricht er über nichts anderes als die Tour und das Gelbe Trikot. Dieser Wunsch kommt mehr von den Leuten, nicht von mir», sagt Bardet.
Vom Toursieg hat der Kapitän vom AG2R-Team nie zu träumen gewagt. «Doch es ist möglich», sagt Bardet nun, der sich stetig verbessert hat. Schon bei seinem Tour-Debüt 2012 wurde er auf Anhieb 15., es folgten die Plätze 6, 9 und 2. Dazu gewann er drei Etappen.
Hinter dem Erfolg steckt ein Plan. In der Chambéry Cyclisme Formation (CCF) wurde er wie drei weitere Fahrer aus dem Tour-Kader ausgebildet. Das Projekt entstand Anfang des Jahrtausends, als der französische Radsport im Zuge des Festina-Skandals in Trümmern lag. «Wir sind durch schlimme Jahre gegangen», erinnert sich Bardets Teamchef Vincent Lavenu und fügt hinzu: «Wir haben jetzt eine Reihe guter Fahrer, die unbelastet von der Vergangenheit ist.»
Und der Beste von ihnen ist Bardet, der seine Grenzen ausreizen will. Mit seinem Trainer Jean-Baptiste Quiclet hat er im Winter an seiner Explosivität gearbeitet, dazu gehört er inzwischen zu den besten Abfahrern der Welt. Die gefährliche Abfahrt vom Mont du Chat, wo Richie Porte so schlimm stürzte, legte er mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 61,2 Stundenkilometern zurück und fuhr dabei sogar Froome davon. Bardet interessiert sich für Material, Ernährung und Trainingswissenschaft, um sein Optimum zu erreichen. Seine einzige Schwäche ist das Zeitfahren.
Da am vorletzten Tag in Marseille noch 22,5 Kilometer im Kampf gegen die Uhr warten, muss er weiter attackieren. Damit der Traum Frankreichs gelingt. Und wenn er tatsächlich die Tour gewinnt? «Der nächste französische Toursieger sollte noch auf den Champs Élysées seine Karriere beenden. Es wäre schwer, mit der ganzen Aufmerksamkeit und dem Druck zu leben», sagt Bardet. Womöglich wird er bald die Erfahrung machen.
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(dpa)