Rio – Felipe Almeida Wu dürfte den meisten der über 200 Millionen Brasilianer bisher unbekannt gewesen sein. Jetzt hat er Geschichte geschrieben. Er holte mit der Luftpistole olympisches Silber. Die erste Medaille im Schießen für Brasilien seit 96 Jahren. Und er wird im Netz gefeiert.
Was auffällt zum Olympia-Start in Rio: Viele Brasilianer haben die Nationaltrikots aus dem Schrank geholt. Gelb-Grün, überall dominant. Das Ziel lautet: unter die ersten Zehn im Medaillenspiegel kommen. Und Interesse für bisherige Orchideen-Sportarten im Land wecken, der Olympiapark wird nach Olympia zum riesigen Leistungssportzentrum umgebaut.
Für die tief verunsicherte Nation ist vor allem die Eröffnungsfeier ein wenig Balsam. Das Fest wurde überwiegend gelobt. Vielerorts wurde beim Public Viewing mächtig gefeiert. Man war stolz.
Dort wurde all die kreative Kraft, die in dieser Nation steckt, gezeigt. Es ist so viel mehr als Samba und heiße Tänzerinnen. Nachdem vorher der Eindruck entstand, Brasilien könne es nicht.
Zwar sind viele Stadien bisher nur mäßig gefüllt, es gibt oft lange Schlangen an Sportstätten beim Einlass. Gute Stimmung entsteht bei den Brasilianern eher spontan. Beim Beachvolleyball an der Copacabana aber ist schon zu sehen, wie frenetisch es zugehen kann. Am Strand machen sich viele spontan auf zum Zieleinlauf der Rennradfahrer.
Aber: Noch läuft Olympia für die Brasilianer eher nebenbei, selbst die Fußballspiele. Ihnen ist vor allem wichtig, wie auf ihr Land geschaut wird. Im Fernsehen werden ausländische Kommentare seziert. Viele ärgern sich über eine oft klischeehafte Berichterstattung.
«Es war eine Botschaft an die Welt», schreibt der bekannte Kolumnist Arnaldo Jabor über die Eröffnungsfeier. «Das wahre Brasilien, das auch historische Fehler nicht verschweigt, hat sich gezeigt.»
Ein wichtiger Tag auch für die Politik, meint er. «Dieses wunderbare Land muss sich aus dem Griff befreien, der es in eine bedauernswerte Sache verwandelt hat.» Ein Seitenhieb auf die völlig diskreditierte politische Klasse. Es gärt mächtig im Land.
Nachdem Präsidentin Dilma Rousseff bei der Fußball-WM 2014 ausgepfiffen wurde, erwischte es nun den Interimspräsidenten Michel Temer noch schlimmer. Er wurde im Maracanã-Stadion so ausgebuht und ausgepfiffen, dass seine Worte zur Eröffnung der XXXI. Olympischen Sommerspiele nicht zu verstehen waren. Die Brasilianer reagieren emotional, der Eindruck vor aller Welt hindert sie da nicht.
Sein Appell, die Spiele mögen die Nation wieder einen, verhallt. Kann jemand, den niemand gewählt hat, bis Ende 2018 das fünftgrößte Land der Welt führen? Kann sich aus den Olympischen Spielen heraus eine neue Eigendynamik entwickeln?
Unter Rousseff war das Land in eine der tiefsten Rezessionen der Geschichte geraten, aber sie sei von 54 Millionen Bürgern legal gewählt worden, sagt sie. Nach der Suspendierung im Mai soll sie Ende August vom Senat endgültig abgesetzt werden. Aber Temer wollen die Menschen auch nicht. Temers PMDB steht wie Rousseffs Arbeiterpartei im Fokus eines milliardenschweren Korruptionsskandals um Provisionszahlungen. Auch bei Untersuchungen zu den Olympia-Bauten könnte noch Unangenehmes ans Licht kommen.
Die schlechte Presse über Brasiliens Politik, aber auch über das Zeichnen eines Rio als Hort von Zika, Mord und Totschlag hat am Selbstbewusstsein genagt. Seit dem 1:7 gegen Deutschland bei der WM gehe alles schief, wird gerne betont.
Daher haben die Spiele auch ein psychologisches Element für die Gastgeber. Entweder es geht weiter Richtung Depression – oder sie können zum Wendepunkt zum Besseren werden. Allerdings wohl eher nicht durch Olympia-Medaillen im Schießen.
Fotocredits: Valdrin Xhemaj
(dpa)