Leipzig – Nur nicht wieder neue Diskussionen um seinen zaghaften Erneuerungskurs oder sogar seine Zukunft als Bundestrainer! Joachim Löw will zum Abschluss eines total verkorksten Jahres mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft zumindest den Festtagsfrieden retten.
Sechs Niederlagen stehen neben dem blamablen Vorrunden-Aus bei der WM 2018 bereits zu Buche. So viele Pleiten gab es in 111 Jahren Länderspielgeschichte des DFB in zwölf Monaten noch nie. Und jetzt kreuzt noch das aufschreckende Wort Abstieg den Löw-Orbit.
Löw kennt die Ungeduld der Fans, die für das Testspiel am Donnerstag (20.45 Uhr) in Leipzig gegen Russland und das Abstiegsendspiel in der Nations League vier Tage später in Gelsenkirchen gegen Holland nur zögerlich nach den jahrelang begehrten Stadion-Tickets greifen. «Ich weiß, dass einige einen ganz radikalen Schnitt einfordern», sagte der Bundestrainer der Deutschen Presse-Agentur. Ab Dienstag muss Löw in Leipzig mit seinem Personal einen Plan einstudieren, der wie zuletzt in Paris erst einmal für weitere Schadensbegrenzung sorgt.
Erstaunt hatte der 58-Jährige im Oktober zur Kenntnis genommen, dass sogar schon über mögliche Nachfolger in seinem Job diskutiert wurde. Da verlor sein Team gerade 0:3 in Amsterdam gegen Oranje. «Man kann nicht auf Knopfdruck eine neue Mannschaft aus dem Boden stampfen, die sofort funktioniert», sagte Löw jetzt vor dem letzten Spiele-Doppelpack 2018. Für den späten Montagabend war im Teamhotel «The Westin» nahe des Leipziger Hauptbahnhofs der Treffpunkt des Kaders zur letzten Jahres-Mission angesetzt. Der Schalker Mark Uth musste wegen einer schweren Muskelverletzung absagen.
Auch nach der jüngsten 1:2-Niederlage bei Weltmeister Frankreich, als der angeschlagene Bundestrainer erst in der Not die aufstrebende Jugendfraktion um Leroy Sané und Serge Gnabry in die Startelf stellte und zumindest mit einem starken Auftritt belohnt wurde, bleibt Löw beim vorsichtigen Umbruch. Nur mit dem Verzicht auf Ex-Weltmeister Jérôme Boateng deutete er neuen Konkurrenzkampf an. «Im aktuellen Kader stehen viele junge Spieler mit Zukunftspotenzial», sagte Löw, wies aber darauf hin: «Die Jungen werden noch ein bisschen brauchen.»
Schon vor der letztlich desaströsen WM in Russland sei ihm klar gewesen, «dass es Veränderungen geben muss – unabhängig vom Ergebnis. Aber das Ganze ist immer ein Prozess bei der Nationalmannschaft», betonte Löw. Und es brauche «auch einen guten Mix zwischen gewisser Erfahrung und jugendlicher Frische, wenn man erfolgreich sein will».
Der Weltmeister-Coach von 2014 zögert weiter. Dabei hatte er selbst 2010 bei der WM in Südafrika den damals völlig überraschenden Trend geprägt, dass jugendliche Frische die Routine von gestandenen Nationalspielern schlägt. Damals beförderte Löw eine ganze Jugendabteilung um Manuel Neuer, Jérôme Boateng, Sami Khedira und Mesut Özil kurzerhand zu WM-Stammkräften und sein Team stürmte mit einem herzerfrischen Stil bis auf Platz drei.
«Da hatte man das Gefühl, sieben oder acht U21-Europameister sind direkt in der Lage, sich relativ schnell oben auf höchstem Niveau zu etablieren. Diese Schwemme von guten Spielern haben wir im Moment nicht», sagte Löw acht Jahre später. Junge deutsche Ausnahmespieler gebe es «aktuell nicht in dem Umfang wie 2009, das stimmt».
Die erste Priorität legt Löw auf die nächste EM in zwei Jahren, nicht auf die Nations League. Da hat Deutschland als Gruppenletzter den Verbleib in der Liga A derzeit ohnehin selbst nicht mehr in der Hand. Gewinnt Holland am Freitag gegen Frankreich, ist schon alles vorbei. Ansonsten könnte sich das DFB-Team in der Schalke-Arena noch retten.
2019 soll es dann mutiger weitergehen. «Mit Beginn der EM-Qualifikation, die über ein Jahr läuft, ist uns schon klar, dass wir möglichst vielen jungen Spielern Raum schaffen müssen, sich zu entwickeln für das Turnier 2020», erklärte Löw. Dann muss die neue Generation auch Schlüsselrollen im Team übernehmen.
«Auch einige herausragende Spieler wie Philipp Lahm, Per Mertesacker oder Bastian Schweinsteiger konnten erst im Laufe ihrer Karriere Führungsrollen übernehmen. Sie haben auch einige Jahre und zwei, drei Turniere gebraucht, bis sie in der Lage waren, Führungsarbeit zu übernehmen», erinnerte Löw.
Junge Spieler wie Timo Werner, Leroy Sané, Julian Brandt oder Joshua Kimmich hätten gute Voraussetzungen, bemerkte der DFB-Chefcoach: «Aber man sollte ihnen auch ein wenig Zeit geben zu reifen und Geduld haben. Mit 22, 23, 24 Jahren ist das nicht so einfach.» Am weitesten, «was die Reife betrifft, ist Jo Kimmich», sagte Löw.
Bei den jugendlichen Anhängern steht die neue Generation der Nationalspieler schon jetzt hoch in der Gunst. Der DFB demonstriert am Dienstag mit der offiziellen Pressekonferenz in einer Leipziger Schule und dem Besuch bei drei Amateurvereinen Fannähe.
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(dpa)