Rio de Janeiro – Die Reue kam spät. Aber sie kam. Stunden nach dem größten Triumph seines Lebens raffte sich Christoph Harting zu einer Entschuldigung für seinen Affront-Auftritt auf dem Gold-Podest von Rio auf.
«Ich möchte allen Leuten, die sich auf den Schlips getreten fühlen, den Zuschauern, die zu Hause geklatscht und mitgefiebert haben, bei denen möchte ich mich entschuldigen und ihnen erklären, dass ich diesen Erfolg weder verarbeitet habe noch in dem Moment verarbeiten konnte», erklärte der 26-Jährige lange nach der Siegerehrung im Deutschen Haus sein despektierliches Verhalten.
Der jüngere Bruder von London-Olympiasieger Robert Harting hatte nach seinem sensationellen Coup im Diskuswerfen beim Abspielen der Nationalhymne auf dem Podest die Arme verschränkt, geschunkelt und herumgealbert. Harting II begründete es damit, dass diese Zeremonie völlig ungewohnt gewesen sei.
«Das erste Mal wurde die Nationalhymne nur für mich gespielt. Egal, wie man versucht, sich das vorzustellen – man ist darauf nicht vorbereitet und so überwältigt von allen Gefühlen», erzählte er. Den «Flow» aus dem Wettkampf habe er noch so lange gespürt, dass er versucht habe, «auf die Nationalhymne zu tanzen. Das war nicht wirklich toll. Muss man sagen. Das ist natürlich völlig falsch angekommen. Das war in keiner Weise Missachtung.»
Ähnlich hatte er sich zuvor auch im ARD-Interview gerechtfertigt – allerdings ohne eine explizite Entschuldigung. «Wie bereitet man sich darauf vor, Olympiasieger zu werden? Ich meine, selbst bei aller Tagträumerei, die man irgendwie vollziehen kann – sowas kannst du dir nicht vorstellen, sowas kannst du dir nicht ausmalen», sagte er.
Die Einsicht kam spät, vielleicht zu spät. Denn zu diesem Zeitpunkt war der Shitstorm aus der Heimat und die Entrüstung im deutschen Lager schon enorm. «Seine sportliche Leistung war großartig, aber sein Verhalten bei der Siegerehrung ist unwürdig gewesen», tadelte der deutsche Leichtathletik-Präsident Clemens Prokop.
«Ich bin ein Mensch, der Rhythmus braucht, der Rhythmus liebt», hatte Harting II nach der Medaillenehrung bei einer nicht minder skurrilen Pressekonferenz seinen Fehltritt begründet: «Es ist schwer, zur Nationalhymne zu tanzen, habe ich festgestellt.» Er sei mit dem Kopf völlig woanders und «hormon-technisch völlig übersteuert» gewesen.
Allerdings hatte er nach der Siegerkür sein befremdliches Benehmen fortgesetzt. «Schönen guten Tag, ich freue mich, Sie zur Pressekonferenz, die relativ schweigend verlaufen wird, begrüßen zu dürfen», sagte er. «Ich bin Sportler und kein PR-Mensch, ich beantworte echt ungern Fragen.»
Lachen konnte Michael Vesper über diesen Auftritt gar nicht. «Was Christoph Harting bei der Siegerehrung gezeigt hat, war nicht gut», kritisierte der Chef de Mission. «Er ist Teil unserer Mannschaft und Botschafter unseres Landes.» Deshalb überredete er Harting zur öffentlichen Entschuldigung. «Für mich ist das mit seiner heutigen Erklärung erledigt», sagte Vesper.
Hartings Trainer Torsten Lönnfors war einfach nur entsetzt. «Keine Ahnung, was das sollte, ich verstehe es nicht. Christoph muss aufpassen, dass er jetzt nicht frei dreht», warnte der Coach in der «Bild»-Zeitung. Zu Recht, wie Hartings Einordnung seines Erfolgs zeigte. «Ich bin zur Legende geworden. Ich denke, ich bin in jedem Sportgeschichtsbuch», sagte er. «In allen sportpolitischen Magazinen kann man nachlesen, wer wann Olympiasieger war.»
Empörte Reaktionen gab es auch aus der Heimat. «Gold im Diskus ist echt super geil!!! Aber für dieses Verhalten schäme ich mich in Deutschland vor dem TV!», schrieb der Weitsprung-Europameister von 2012, Sebastian Bayer, auf seiner Facebook-Seite. Der ehemalige Handball-Nationalspieler Pascal Hens ätzte: «Das Verhalten bei der Nationalhymne ist einfach nur peinlich und respektlos!»
In Schutz genommen wurde Christoph Harting von seinem Vater. «Wir haben die Siegerehrung auf der Großleinwand mitverfolgt. Das ist Christoph und seine Art, Erfolge zu feiern», sagte Gerd Harting der Deutschen Presse-Agentur. «Christoph will seinen Spaß haben.»
Erst im letzten Versuch hatte Harting mit 68,37 Meter sensationell den Polen Piotr Malachowski vom Gold-Rang verdrängt und sich zum Nachfolger seines Bruders Robert gekürt. Gehandicapt durch einen Hexenschuss war der Olympiasieger von 2012 in der Ausscheidung gescheitert.
Nicht vermiesen lassen wollte sich der Wattenscheider Daniel Jasinski seine Jubel-Laune nach Bronze. «Seine Leistung war wahnsinnig, den Rest muss er selbst wissen», lautete sein kurzer Kommentar.
Harting-Coach Lönnfors hat nun die weltbesten Diskuswerfer in seiner Trainingsgruppe, die aber die komplizierteste sein dürfte. «Man könnte meinen, zwei Brüder auf diesem hohen Niveau könnten jetzt die Welt rocken», sagte er. «Ich denke, dass es eher eine Konkurrenz ist, weil sie so unterschiedliche Typen sind. Das gemeinsame Losstürmen ist deshalb nicht so machbar.»
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(dpa)